Henry Dunant Humanist und Visionär des Roten Kreuzes (1828 – 1910)

«Wäre es nicht möglich Hilfsorganisationen zu gründen, deren Ziel es sein müsste, die Verwundeten in Kriegszeiten durch pflichtbewusste, aufopfernde und für ein solches Werk besonders geeignete Freiwillige pflegen zu lassen, sofern sie von den Kriegsführenden aller Seiten anerkannt und geschützt würden?»

Mit diesem Gedanken legte Henry Dunant den Grundstein für das Rote Kreuz. Er war ein Vordenker der neutralen, humanitären Arbeit in Kriegszeiten.

Überblick

Fr/It

Französisch

Henry Dunant a été le précurseur du travail humanitaire en temps de guerre. Visionnaire, il est considéré comme le fondateur de la Croix-Rouge au milieu du XIXe siècle. Il pensait que des volontaires neutres devaient prodiguer des soins aux blessés et aux malades en temps de guerre.

Sa vision a été concrétisée par la signature de la Convention de Genève en 1864. Son œuvre est toujours vivante : les Conventions de Genève ne cessent d’évoluer. Les principes de base de 1864 sont cependant toujours d’actualité.

La prouesse de Dunant réside dans le fait d’avoir façonné sa vision de la Croix-Rouge, de l’avoir promue et de l’avoir concrétisée de sa propre initiative avec des personnes partageant les mêmes idéaux. Il a convaincu les grandes puissances de ratifier des traités internationaux qui sont encore valables aujourd’hui.

Italienisch

Henry Dunant fu un precursore dell’attività umanitaria in guerra. Con un’idea visionaria, a metà del XIX secolo diede vita al progetto della Croce Rossa, con personale volontario che – fedele al principio della neutralità – prestasse assistenza a feriti e malati di guerra.

La sua visione gettò le basi per la Convenzione di Ginevra del 1864. La sua opera si è tramandata fino ai giorni nostri, continuando a ispirare anche le Convenzioni successive. I principi fondanti del 1864 sono però rimasti immutati fino a oggi.

La straordinaria opera di Dunant sta nell’aver dato forma alla sua visione della Croce Rossa, nata come iniziativa privata e poi promossa e realizzata insieme a chi condivideva gli stessi principi. Dunant ha spronato le grandi potenze a ratificare dei trattati internazionali in vigore ancora oggi.

Als Visionär gestaltet Henry Dunant die Idee des Roten Kreuzes. Diese Idee reift, als der aus gutem Hause stammende junge Genfer auf einer Geschäftsreise am Schlachtfeld von Solferino vorbeikommt. Im Jahr 1859 kämpft dort das Kaisertum Österreich gegen das Königreich Sardinien und Frankreich.

Bestürzt und bewegt von den vielen Eindrücken der Verletzten und Toten verfasst er das Buch «Un Souvenir de Solferino» / «Eine Erinnerung an Solferino». Darin schildert er in realistischen Bildern die Schrecken des Krieges: abgeschlagene Glieder und Köpfe, sich in Blut und Schmutz wälzende Körper, zerfetzte Gesichter, aufgerissene Augen und im Schrei erstarrte Münder. Mit seinem Buch reist er durch ganz Europa, um seine Vision zu vertreten. Seine Idee, durch neutrale Freiwillige die Versorgung von Verwundeten und Kranken im Krieg zu gewährleisten, wird durch die Gründung des Roten Kreuzes und die Entwicklung der Genfer Konvention im Jahr 1864 umgesetzt.

Dunants Leben nimmt kurz nach dem durchschlagenden Erfolg seiner Vision verheerende Wendungen. Er verspekuliert sich geschäftlich und schuldet in Genf vielen Gläubigern hohe Geldsummen. Dunant verlässt nach einem körperlichen und geistigen Zusammenbruch als 39-Jähriger seine Heimatstadt. Freunde empfehlen ihm den Luftkurort Heiden in Appenzell Ausserrhoden. Dort verbringt er mehr als 20 Jahre, bis zu seinem Lebensende 1910. Auch hier spiegeln sich seine Höhen und Tiefen. Zurückgezogen, aber für die Anerkennung seiner Leistungen kämpfend, lebt er im Bezirksspital Heiden. In Genf hält man ihn für verstorben. In Heiden lebt er auch, als er 1901 zusammen mit dem Pazifisten Frédéric Passy den ersten Friedensnobelpreis erhält, der jemals verliehen wird.

Dunants Werk lebt fort: Die Genfer Konventionen werden laufend weiterentwickelt. Die Grundprinzipien von 1864 sind aber bis heute dieselben geblieben. Aus diesem ersten Keim entstanden neue Äste. Dunants einmalige Leistung besteht darin, dass er seine Vision vom Roten Kreuz gestaltete, bekannt machte und mithilfe einer Hand voll Gleichgesinnte aus privater Initiative heraus verwirklichte. Er bewegte Grossmächte dazu, völkerrechtliche Verträge zu ratifizieren, die bis heute Gültigkeit besitzen.

  • Henry Dunant wird in Genf geboren.
    1828
  • Henry begleitet seine Mutter bei ihren Armen- und Krankenbesuchen. Später schliesst er sich der Almosengesellschaft an und besucht selber Arme und Gefangene.
    1837
  • Henry Dunant engagiert sich wirtschaftlich: Die französische Regierung erteilt Dunant eine Konzession für Mühlen in Sétif in Algerien.
    1854
  • Henry Dunant reist nach Italien, um bei Napoleon III. wegen seiner algerischen Geschäfte vorzusprechen. Am 24. Juni wird er Zeuge der Schlacht bei Solferino.
    1859
  • Dunant verarbeitet seine Erlebnisse in seiner berühmt gewordenen Schrift «Eine Erinnerung an Solferino». Darin ruft er zu humanitärem Handeln im Krieg auf.
    1862
  • Dunants Idee, durch neutrale Freiwillige die Versorgung von Verwundeten und Kranken im Krieg zu gewährleisten, wird durch die Gründung des Roten Kreuzes und die Entwicklung der Genfer Konvention im Jahr 1864 umgesetzt.
    1864
  • Henry Dunant verspekuliert sich geschäftlich und findet verarmt in Heiden eine Unterkunft. Dort lebt er bis zu seinem Lebensende.
    1887
  • Henry Dunant erhält zusammen mit Frédéric Passy am 10. Dezember den ersten Friedensnobelpreis.
    1901
  • Henry Dunant stirbt am 30. Oktober in Heiden. Seine Bestattung findet am 2. November auf dem Friedhof Sihlfeld in Zürich statt.
    1910

Wirkungsorte

Das humanitäre Werk von Henry Dunant führte ihn um die halbe Welt. Klicken Sie auf die einzelnen blauen «Stecknadeln» und erfahren Sie mehr zu seinem Leben und Wirken.

Eine Erinnerung an Solferino

Schon in jungen Jahren betätigt sich Henry Dunant als Unternehmer, unter anderem in Algerien. Um für seine Geschäfte in Kolonialfrankreich gute Bedingungen zu erwirken, schreibt er zu Ehren Kaiser Napoléon III. eine Lobesschrift mit dem Titel «Das wiederhergestellte Kaiserreich Karls des Grossen, oder das Heilige Römische Reich». Im Jahr 1959 entschliesst er sich, seine Schrift Napoléon persönlich vorzulegen. Dieser weilt mit seinem Heer gerade in der kleinen norditalienischen Stadt Solferino. Als Dunant dort eintrifft, wird er Zeuge einer Schlacht zwischen den Truppen von Sardinien-Piemont/Frankreich unter Napoléon und einer Armee Österreichs.

Kurz nach seinen Erlebnissen in Solferino verfasst Henry Dunant einen ausführlichen Tatenbericht. In seinem Werk «Eine Erinnerung an Solferino» schildert er in eindringlichen Worten seine Erlebnisse, die schliesslich die Vision des Roten Kreuzes entstehen lassen sollten. Die folgenden Ausschnitte geben einen Einblick in zentrale Passagen seiner Schilderungen.

Achtung: Die folgenden Ausschnitte enthalten explizite Schilderungen von Gewalttaten und Verletzungen.

Die Schlacht bricht aus

«An jenem denkwürdigen 24. Juni (1859) standen sich mehr als dreihunderttausend Menschen gegenüber. Die Schlachtlinie hatte eine Ausdehnung von fünf Meilen, und es wurde fünfzehn Stunden lang gekämpft. Die österreichische Armee, die während der ganzen Nacht des 23. Juni Mühsale eines schwierigen Marsches hatte ertragen müssen, war seit der Morgendämmerung heftigen Angriffen der verbündeten Armeen ausgesetzt. [...] Die französischen Truppen, die seit Beginn der Dämmerung auf dem Marsch waren, hatten nichts anderes zu sich genommen als ihren Morgenkaffee. So waren denn die Kämpfenden, besonders die unglücklich Verwundeten, als diese schreckliche Schlacht beendet war, vollkommen erschöpft. [...]

Es ist ein Kampf Mann gegen Mann, ein entsetzlicher, schrecklicher Kampf. Österreicher und Alliierte Soldaten treten sich gegenseitig unter die Füsse, machen einander mit Kolbenschlägen nieder, zerschmettern dem Gegner den Schädel, schlitzen einer dem anderen mit dem Säbel oder Bajonett den Bauch auf. Es gibt kein Pardon. Es ist ein allgemeines Schlachten, ein Kampf wilder, wütender, blutdürstiger Tiere. Selbst die Verwundeten verteidigen sich bis zum letzten Augenblick. Wer keine Waffen hat, packt den Gegner und zerreisst ihm die Gurgel mit den Zähnen.
An anderer Stelle wütet ein ähnlicher Kampf. Er wird noch schrecklicher durch das Nahen einer Reiterschwadron, die im Galopp anstürmt. Die Pferde zertreten mit ihren beschlagenen Hufen Tote und Verwundete. Einem armen Blessierten wir die Kinnlade fortgerissen, einem anderen der Kopf eingeschlagen, einem dritten, den man hätte retten können, die Brust eingedrückt. In das Wiehern der Pferde mischen sich Verwünschungen, Wutschreie, Schmerz- und Verzweiflungsrufe. Den Reitern folgt in gestrecktem Lauf bespannte Artillerie. Sie bahnt sich ihren Weg über Tote und Verwundete, die auf dem Boden liegen. Gehirn spritzt aus den zerplatzenden Köpfen, Glieder werden gebrochen und zermalmt, Körper werden zu formlosen Massen. Die Erde wird buchstäblich mit Blut getränkt. Und die Ebene ist übersät mit unkenntlichen Resten von Menschen. [...]»

Die Lazarette

«Während einer Schlacht bezeichnet gewöhnlich eine schwarze Fahne, die auf einem erhöhten Punkt aufgepflanzt ist, die Verbandplätze oder Feldlazarette der kämpfenden Regimenter, und auf Grund gegenseitiger stillschweigender Übereinkunft wird auf diese Stellen nicht geschossen. Nichtsdestoweniger schlagen auch dort zuweilen Bomben ein, und dann bleiben auch die Verwaltungsbeamten und Wärter nicht verschont und ebensowenig die Wagen, die mit Brot, Wein und Fleisch beladen sind, aus dem Suppe für die Verletzten gekocht werden soll. Diejenigen verwundeten Soldaten, die noch gehen können, begeben sich selber zu diesen Verbandplätzen. Die anderen, welche infolge Blutverlust oder mangelnder Pflege erschöpft sind, werden mittels Sänften oder Tragbahren dorthin gebracht. [...]

Die Sonne des 25. Juni beleuchtet eines der schrecklichsten Schauspiele, das sich erdenken lässt. Das Schlachtfeld ist allerorten bedeckt mit Leichen von Menschen und Pferden. In den Strassen, Gräben, Bächen, Gebüschen und Wiesen, überall liegen Tote, und die Umgebung von Solferino ist im wahren Sinne des Wortes mit Leichen übersät. [...] Die unglücklichen Verwundeten, die man tagsüber aufsammelt, sind bleich, fahl und verstört. Einige, und insbesondere diejenigen, die stark verstümmelt sind, sehen stier vor sich hin und scheinen nicht zu begreifen, was man zu ihnen sagt. Sie blicken ihre Retter mit leeren Augen an, aber diese scheinbare Gefühllosigkeit hindert sie nicht, die Schmerzen ihrer Wunden zu empfinden. Andere sind unruhig, ihre Nerven sind völlig erschüttert. Sie zucken krampfhaft zusammen. Die, deren offene Wunden sich bereits entzündet haben, sind wie von Sinnen vor Schmerzen. Sie verlangen, dass man sie umbringt, sie winden sich mit verzerrten Gesichtern in den letzten Zügen des Todeskampfes. [...]

Was für Todeskämpfe, was für leidvolle Szenen spielen sich in diesen Tagen des 25., 26. und 27. Juni ab. Die Wunden sind durch Hitze und Staub, durch Mangel an Wasser und Pflege entzündet, und so werden die Schmerzen immer stärker. Erstickende Dünste verpesten die Luft, trotz der lobenswerten Anstrengungen der Intendantur, alle in Lazarette verwandelten Räumlichkeiten sauber zu halten. Immer fühlbarer wird der Mangel an Hilfskräften, an Krankenwärtern und Dienstpersonal [...]
Dort liegt ein völlig entstellter Soldat, dessen übermässig lang aus dem zerrissenen und zerschmetterten Kiefer heraushängt. Er macht alle Anstrengungen, sich zu erheben. Ich benetze seine vertrockneten Lippen und seine verdorrte Zunge. Dann nehme ich eine Handvoll Scharpie, tauche sie in einen Kübel, den man mir nachträgt, und drücke das Wasser aus diesem Schwamm in die unförmige Öffnung, die die Stelle seines Mundes vertritt. [...]
Obgleich jedes Haus zu einer Pflegestätte geworden ist, und jede Familie genug zu tun hat, um die Offiziere zu versorgen, die sie aufgenommen hat, gelingt es mir doch, vom Sonntagvormittag an eine Anzahl Frauen aus dem Volke zusammenzubringen, die ihr möglichstes tun, den Verwundeten behilflich zu sein. Es handelt sich ja jetzt nicht um Amputationen oder sonstige Operationen. Man muss vielmehr Leuten, die vor Hunger und Durst vergehen, zu essen und vor allem zu trinken geben. Mann muss ihre Wunden verbinden, ihre blutigen, verschmutzten und von Ungeziefer bedeckten Körper waschen, und dies alles muss geschehen inmitten von stinkenden und ekelerregenden Ausdünstungen unter dem Klagegeschrei und dem Stöhnen von Verwundeten und in einer erstickend heissen und verdorbenen Luft. [...]

Hinten, im Chor der Kirche, links in der Nische eines Altars, liegt auf dem Stroh ein afrikanischer Jäger. Er klagt nicht und rührt sich kaum. Drei Kugeln haben ihn getroffen; eine in die rechte, eine in die linke Schulter, und die dritte ist im rechten Bein steckengeblieben. Es ist Sonntagabend, und er versichert mir, dass er seit Freitagmorgen nichts gegessen hat. Er ist wirklich ekelerregend anzuschauen. Seine Kleider sind zerrissen und mit getrocknetem Kot und geronnenem Blut bedeckt. Sein Hemd hängt in Fetzen herunter. Nachdem ich seine Wunden gewaschen, ihm ein wenig Fleischbrühe eingeflösst und ihn in eine Decke gehüllt habe, führt er meine Hand an die Lippen mit dem Ausdruck unendlichen Dankes.

Am Nachmittag des 27. lasse ich, völlig erschöpft, und da ich dennoch nicht schlafen kann, meine Wagen anspannen. Gegen sechs Uhr fahre ich fort, um im Freien die Frische des Abends zu geniessen, um ein wenig auszuruhen und mich den düsteren Szenen zu entziehen. [...]»

Die Vision des Roten Kreuzes

«Aber wozu soviele Szenen des Schmerzes und der Verzweiflung schildern und dadurch vielleicht peinliche Gefühle erregen? Warum mit soviel Behagen sich über bejammernswerte Bilder verbreiten und sie in einer Weise ausmalen, die man übergenau und trostlos nenne könnte?
Es sei mir erlaubt, auf diese sehr natürliche Frage mit einer anderen Frage zu antworten:
Gibt es während einer Zeit der Ruhe und des Friedens kein Mittel, um Hilfsorganisationen zu gründen, deren Ziel es sein müsste, die Verwundeten in Kriegszeiten durch begeisterte, aufopfernde Freiwillige, die für ein solches Werk besonders geeignet sind, pflegen zu lassen? [...]
Gesellschaften solcher Art würden, sobald sie einmal für die Dauer errichtet sind, natürlich zu Friedenszeiten untätig bleiben, aber sie würden in ständiger Bereitschaft sein für den Fall eines Krieges. [...]
Ist es in einer Epoche, wo man soviel von Fortschritt und Zivilisation spricht, nicht dringend nötig, da nun einmal unglücklicherweise Kriege nicht verhindert werden können, darauf zu bestehen, dass man im Sinne wahrer Menschlichkeit und Zivilisation einen Weg sucht, um wenigstens seine Schrecken etwas zu mildern?»

Die Genfer Konvention von 1864

Am 26. Oktober 1863 findet in Genf die erste internationle Versammlung über die Vision Henry Dunants statt. Folgende Ausschnitte aus dem Protokoll zeigen die Ziele und Mittel, welche in dieser Konferenz verhandelt wurden.

Bericht über die erste Sitzung
Montag, den 26. Oktober 1863

Die Sitzung wird durch den Schweizer General Guillaume Henri Dufour eröffnet:

«Sie wissen sehr gut, meine Herren, dass die vorhandenen Einrichtungen der Feldlazarette bei den stehenden Heeren nicht ausreichen, um den unglücklichen Verwundeten auf dem Schlachtfelde mehr als eine völlig ungenügende Hilfe zu gewähren. Alle Vorkehrungen in dieser Hinsicht sind durchaus unzureichend. Dies zeigt sich gerade dann, wenn man wünschen müsste, dass die Hilfeleistungen sofort und in grossem Umfange einsetzen. Dieses Ungenügen ist allgemein bekannt, aber es ist insbesondere und mit erschreckender Wahrheitsliebe in einem Werk geschildert, dass Sie alle kennen, und das einer meiner Landsleute, Herr Dunant, nach der Schlacht von Solferino veröffentlich hat. Wir haben uns, meine Herren, hier versammelt, um zu sehen, ob es nicht irgendeine Möglichkeit gibt, die philanthropischen Vorschläge, die in diesem Buch gemacht worden sind, zu verwirklichen. [...]
Ist es nun so, meine Herren, dass wir bei dem Gedanken an die Lösung dieser Frage uns in eine Utopie verliebt haben? Steht das Ziel, das wir erreichen wollen, so hoch, geht es so weit über unsere Kraft, dass wir alle zusammen trotz grösster Anstrengung es nicht erreichen können? Wenn dies so ist, müsste man sich damit abfinden. Aber dann haben wir wenigstens für alle Zeiten das Verdienst gehabt, das Unternehmen versucht zu haben, und das wird allen, welche die Leiden der Menschheit lebhaft mitfühlen, zur Genugtuung und zum Troste gereichen. Jedenfalls werden wir in den Acker der Zukunft ein Samenkorn gepflanzt haben, das später vielleicht einmal reifen wird, wenn günstigere Umstände herrschen, wenn die Zivilisation neue Fortschritte gemacht hat, wenn die Völker menschlichere Wege gehen, die weiter führen als die, welche sie heute verfolgen. Der Zukunft bleibt es also vorbehalten, hier das entscheidende Wort zu sprechen. Wir jedenfalls werden getan haben, was wir tun konnten. [...]»

Gustave Moynier, Präsident der Genfer Gemeinnützigen Gesellschaft:

«Als wir Ihnen schrieben, waren wir von dem Erfolg unseres Schrittes keineswegs überzeugt. Um so glücklicher war unser Ausschuss, als er erkannte, dass seine Ideen allerorts aufgegriffen wurden, und sein Aufruf Widerhall fand. Regierungen, Gesellschaften und ebenso auch einzelne Privatpersonen haben einen lobenswerten Eifer gezeigt, uns zu helfen und uns mit ihrer Einsicht beizustehen, damit es uns gelingen möge, eine brauchbare Formulierung für die grossherzigen Pläne unseres Schriftführers (Henry Dunant) zu finden.[...]
Wir sind davon überzeugt, dass uns eine grosse Pflicht auferlegt ist. Wir keine Ruhe kennen, bis wir das Mittel gefunden haben, die Entbehrungen und Leiden unserer Mitmenschen zu lindern, welche die unausbleibliche Folge einer Schlacht sind. [...]
In jeder europäischen Stadt soll ein Ausschuss gebildet werden. Er soll aus den angesehensten und achtbarsten Männern bestehen und sich bei seiner Regierung vergewissern, dass man sich seiner bedienen wird, sobald ein Krieg ausbricht. [...] In Friedenszeiten soll er für alle Fälle den Felddienst und die Möglichkeit studieren, wie er die Hilfsmittel, die in Kriegszeiten zu seiner Verfügung stehen, am nutzbringendsten verwenden kann. [...] Sobald der Krieg ausbricht, organisiert jeder Ausschuss Hilfeleistungen für das Heer seines eigenen Landes. [...] Sobald ein Kampf entbrennt, und der Boden mit Toten und Sterbenden bedeckt ist, eilen unsere Abteilungen auf ein Zeichen des Oberbefehlshabers herbei. Sie machen sich ans Werk, stärken diesen, tragen jenen zum Feldlazarett, geben einem dritten zu trinken, stillen das Blut eines vierten, haben für alle ein Wort des Trostes und der Ermutigung und entreissen so manchen dem Tode, dem er bei längerem Mangel an Pflege nicht entronnen wäre. [...]

So glauben wir, verlangen zu müssen, dass verwundeten Gegnern, die durcheinander auf dem Schlachtfeld liegen, ohne Unterschied von den Krankenwärtern der einen oder anderen Armee Hilfe geleistet werden darf. Dafür ist es nötig, dass die Person dieser Wärter für alle heilig ist, damit sie sich nicht dem aussetzen, als Feinde behandelt zu werden. So müssten sie also alle ein gemeinsames Erkennungszeichen tragen, das die gleiche Achtung weckt wie das Kleid des Priesters oder der barmherzigen Schwester. Die Armeeführer müssten auch zu Beginn des Feldzuges verpflichtet sein, ihre Truppen amtlich von dem Vorhandensein eines Korps von Freiwilligen, von ihrem Erkennungszeichen und ihrer durchaus friedlichen und wohltätigen Aufgabe zu unterrichten. [...] Wir haben ferner vorgesehen, dass die nationalen Ausschüsse der verschiedenen Länder untereinander regelmässige Beziehungen unterhalten sollen. Das ist eine nützliche Massregel, um sie in ständiger Bereitschaft zu halten, denn sonst könnte es geschehen, dass man im Falle eines längeren Friedens ihr Vorhandensein völlig vergässe, und dass sie auch selber das Gefühl für die Dringlichkeit ihrer Aufgabe verlören. [...]»

Die erste Seite der Genfer Konvention.
Nur ein Jahr nach den ersten Verhandlungen treten eine Vielzahl von Nationen der Genfer Konvention bei.

Meinungen und Perspektiven

Die Gestalt Henry Dunant und seine Vision beeindrucken und beschäftigen bis heute. Im folgenden geben Wissenschaftlerinnen, Juristen und Historikerinnen ihre ganz persönliche Perspektive auf Dunant. Die Interviews wurden als Teil eines Projektes aufgenommen und können in voller Länge beim Verein «Appenzeller Friedens-Stationen.ch» eingesehen werden.

Dunant Museum

Das Dunant Museum in Heiden, Appenzell AR ist der Persönlichkeit und dem Lebenswerk Henry Dunants (1828 – 1910) gewidmet. Aber nicht nur die Erinnerung an den Initiator und Gründer des Roten Kreuzes wird in diesem Museum wach gehalten, auch seiner Visionen einer Welt ohne Krieg und ohne soziale Not ist ein Raum gewidmet.

Dank dem humanitären Wirken des Roten Kreuzes konnte in zahllosen Kriegen die Not gelindert werden. Eine der grossen Visionen Dunants, dass Konflikte am Verhandlungstisch und nicht auf dem Schlachtfeld gelöst werden sollten, blieb bis heute unerfüllt. Dunants Wunsch, die Schaffung eines Internationalen Gerichtshofes, wurde am 26. Juni 1945 in Den Haag Wirklichkeit.

Das Museum bietet einen Einblick in Leben und Werk Henry Dunants mit vielen Originalstücken. Weitere Informationen finden Sie auf der offiziellen Website des Museums.

Leseempfehlungen

Das Leben und Wirken von Henry Dunant haben eine Vielzahl von Publikationen hervorgebracht. Zum Einstieg sind hier einige Texte empfohlen:

  • Descombes, Marc: Henry Dunant. Finanzmann - Phantast - Gründer des Roten Kreuzes. Eine Bildbiographie. Zürich 1988.
    Der Wissenschaftler Marc Descombes nimmt seine Leserinnen und Leser in eine reich bebilderte und pointiert geschriebene Biographie von Henry Dunant mit. Sie eignet isch gut, um einen ersten Überblick über Leben und Werk Dunants zu erhalten.
  • Steiner, Yvonne: Henry Dunant. Biographie. Herisau 2010.
    In ihrer ausführlichen Biografie zeichnet die Theologin Yvonne Steiner ein kritisches und facettenreiches Bild von Henry Dunant.
  • Amann, Hans: Sieben Männer und das Rote Kreuz, in: Appenzeller Kalender auf das Jahr 2003, S. 93.
  • Amann, Hans: Vor 175 Jahren wurde Henry Dunant geboren, in: Appenzeller Kalender auf das Jahr, 2004, S. 96-98.