«Während einer Schlacht bezeichnet gewöhnlich eine schwarze Fahne, die auf einem erhöhten Punkt aufgepflanzt ist, die Verbandplätze oder Feldlazarette der kämpfenden Regimenter, und auf Grund gegenseitiger stillschweigender Übereinkunft wird auf diese Stellen nicht geschossen. Nichtsdestoweniger schlagen auch dort zuweilen Bomben ein, und dann bleiben auch die Verwaltungsbeamten und Wärter nicht verschont und ebensowenig die Wagen, die mit Brot, Wein und Fleisch beladen sind, aus dem Suppe für die Verletzten gekocht werden soll. Diejenigen verwundeten Soldaten, die noch gehen können, begeben sich selber zu diesen Verbandplätzen. Die anderen, welche infolge Blutverlust oder mangelnder Pflege erschöpft sind, werden mittels Sänften oder Tragbahren dorthin gebracht. [...]
Die Sonne des 25. Juni beleuchtet eines der schrecklichsten Schauspiele, das sich erdenken lässt. Das Schlachtfeld ist allerorten bedeckt mit Leichen von Menschen und Pferden. In den Strassen, Gräben, Bächen, Gebüschen und Wiesen, überall liegen Tote, und die Umgebung von Solferino ist im wahren Sinne des Wortes mit Leichen übersät. [...] Die unglücklichen Verwundeten, die man tagsüber aufsammelt, sind bleich, fahl und verstört. Einige, und insbesondere diejenigen, die stark verstümmelt sind, sehen stier vor sich hin und scheinen nicht zu begreifen, was man zu ihnen sagt. Sie blicken ihre Retter mit leeren Augen an, aber diese scheinbare Gefühllosigkeit hindert sie nicht, die Schmerzen ihrer Wunden zu empfinden. Andere sind unruhig, ihre Nerven sind völlig erschüttert. Sie zucken krampfhaft zusammen. Die, deren offene Wunden sich bereits entzündet haben, sind wie von Sinnen vor Schmerzen. Sie verlangen, dass man sie umbringt, sie winden sich mit verzerrten Gesichtern in den letzten Zügen des Todeskampfes. [...]
Was für Todeskämpfe, was für leidvolle Szenen spielen sich in diesen Tagen des 25., 26. und 27. Juni ab. Die Wunden sind durch Hitze und Staub, durch Mangel an Wasser und Pflege entzündet, und so werden die Schmerzen immer stärker. Erstickende Dünste verpesten die Luft, trotz der lobenswerten Anstrengungen der Intendantur, alle in Lazarette verwandelten Räumlichkeiten sauber zu halten. Immer fühlbarer wird der Mangel an Hilfskräften, an Krankenwärtern und Dienstpersonal [...]
Dort liegt ein völlig entstellter Soldat, dessen übermässig lang aus dem zerrissenen und zerschmetterten Kiefer heraushängt. Er macht alle Anstrengungen, sich zu erheben. Ich benetze seine vertrockneten Lippen und seine verdorrte Zunge. Dann nehme ich eine Handvoll Scharpie, tauche sie in einen Kübel, den man mir nachträgt, und drücke das Wasser aus diesem Schwamm in die unförmige Öffnung, die die Stelle seines Mundes vertritt. [...]
Obgleich jedes Haus zu einer Pflegestätte geworden ist, und jede Familie genug zu tun hat, um die Offiziere zu versorgen, die sie aufgenommen hat, gelingt es mir doch, vom Sonntagvormittag an eine Anzahl Frauen aus dem Volke zusammenzubringen, die ihr möglichstes tun, den Verwundeten behilflich zu sein. Es handelt sich ja jetzt nicht um Amputationen oder sonstige Operationen. Man muss vielmehr Leuten, die vor Hunger und Durst vergehen, zu essen und vor allem zu trinken geben. Mann muss ihre Wunden verbinden, ihre blutigen, verschmutzten und von Ungeziefer bedeckten Körper waschen, und dies alles muss geschehen inmitten von stinkenden und ekelerregenden Ausdünstungen unter dem Klagegeschrei und dem Stöhnen von Verwundeten und in einer erstickend heissen und verdorbenen Luft. [...]
Hinten, im Chor der Kirche, links in der Nische eines Altars, liegt auf dem Stroh ein afrikanischer Jäger. Er klagt nicht und rührt sich kaum. Drei Kugeln haben ihn getroffen; eine in die rechte, eine in die linke Schulter, und die dritte ist im rechten Bein steckengeblieben. Es ist Sonntagabend, und er versichert mir, dass er seit Freitagmorgen nichts gegessen hat. Er ist wirklich ekelerregend anzuschauen. Seine Kleider sind zerrissen und mit getrocknetem Kot und geronnenem Blut bedeckt. Sein Hemd hängt in Fetzen herunter. Nachdem ich seine Wunden gewaschen, ihm ein wenig Fleischbrühe eingeflösst und ihn in eine Decke gehüllt habe, führt er meine Hand an die Lippen mit dem Ausdruck unendlichen Dankes.
Am Nachmittag des 27. lasse ich, völlig erschöpft, und da ich dennoch nicht schlafen kann, meine Wagen anspannen. Gegen sechs Uhr fahre ich fort, um im Freien die Frische des Abends zu geniessen, um ein wenig auszuruhen und mich den düsteren Szenen zu entziehen. [...]»